Friday, 20 July 2018

Ist was Kultur?

Als feedback auf meinen kürzlich auf Zenith erschienenen Beitrag gegen Panikmache über Migration und sexuelle Gewalt, erhielt ich einen sehr interessanten Leserbrief von einem Kollegen aus einem anderen Fach. Er fragte, was aus ethnologischer/anthropologischer Sicht Kultur denn überhaupt wohl bedeuten könne - da Kulturen offensichtlich keine Dinge und keine Computerprogramme sind, manche Gemeinsamkeiten und Unterschiede unter Menschen aber unbestreitbar existieren. Hier meine Antwort:

Vielen Dank für Ihr Interesse und Ihre Nachricht. Während EthnologInnen/anthropologInnen heutzutage sich mehrheitlich einig sind, dass "Kulturen" in dem Sinne, wie über sie gängig in der Öffentlichkeit geredet wird, nicht existieren, sind wir uns allerdings nicht einig, was Kultur wohl sein könnte. Möglicherweise wird es nie eine Einigkeit geben, weil Kultur nicht etwas ist, was man als ein Ding antreffen kann, sondern ein Wort, das schon immer verwendet worden ist, um unterschiedliche Sachverhalte anzusprechen.

Im deutschsprachigen Raum hat die Mainzer Ethnologin Carola Lentz viel darüber geschrieben, was Kultur nicht ist, und inwiefern es dennoch sinnvoll sein kann, über Kultur zu sprechen (und inwiefern nicht). Ihre neueste Publikation dazu findet sich in der jüngsten Nummer der Zeitschrift für Ethnologie (leider noch nicht online). Auf Internet findet sich auch einiges. Ich halte ihre Beiträge zum Thema für sehr hilfreich.

Eine ganz andere Richtung in der zeitgenössischen Ethnologie argumentiert, dass Menschen nicht nur unterschiedliche Kulturen haben: Auch "die Natur" ist nicht universal gegeben. Im Fachjargon redet man dabei von "Ontologie" (nicht im gleichen Sinne wie in der Philosophie). Hier eine kurze Einführung zu diesem überaus kontroversiellen Ansatz: http://www.anthroencyclopedia.com/entry/ontological-turn

Ich halte persönlich einiges von einer Denkweise, die weniger die kollektiven Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zum Thema macht, und mehr das Kultivieren von Fähigkeiten, Empfindsamkeiten, Gefühlshaltungen usw. Das ist ein Ansatz, der einerseits mit Denkern wie Talal Asad verbunden ist, der von Traditionen spricht, die Menschen sich aktiv aneignen, und dabei Lernen, auf bestimmte Art und weise zu argumentieren, bestimmte Ziele für erstrebenswert zu halten, und sie auf bestimmte Art und Weise anstreben. Menschen können (und tun es auch oft) gleichzeitig in mehreren Traditionen stehen, die nicht unbedingt immer mit sprachlichen, ethnischen und religiösen Grenzen übereinstimmen. Jemand kann zum Beispiel gelernt haben, über richtig und falsch, Leben und Tod in der religiösen tradition des Katolischen Christentums oder des sunnitischen Islam zu denken, fühlen und zu agieren, aber ebenfalls in der Tradition eines Nationalismus bestimmte Menschen in "wir" und "die Anderen" zu teilen, und in den Traditionen einer politischen Ideologie die Welt aus einer eher rechten, hierarchieorientierten, oder linken, emanzipationsorientierten Warte zu sehen und zu gestalten. Andererseits ist der Ansatz, dem ich Nahe stehe, von Pierre Bourdieus Soziologie der Klassengesellschaft und dem Begriff des Habitus inspiriert: Habitus ist bei Bourdieu die Art und Weise, wie wir lernen, bestimmte Dinge natürlich, angenehm und schön zu finden, und wie diese Empfindungen Mittel im gesellschaftlichen Verteilungskampf und in Klassenunterschiede werden. Das Wichtige bei Bourdieu ist, dass oft die Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft oder einer ethnischen Gruppe diejenigen sind, die das Meiste ausmachen, denn durch sie kommen gesellschaftliche Hierarchien und Macht zu Stande.


Mit freundlichen Grüßen

Samuli Schielke


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