Wer erwartet hatte, ein deutsches Arbeitsgericht wäre kein Ort für Gerichtsaal-Dramen, wurde am vergangenen Dienstag eines Besseren belehrt. Fast fünf Stunden lang tagte das Arbeitsgericht Halle am 10.12.2024 zu der Klage, die Ghassan Hage gegen die Max-Planck-Gesellschaft wegen seiner seiner fristlosen, hilfsweisen ordentlichen Kündigung im Februar 2024. Die Entscheidung ist nicht in seinem Sinne. Das Gericht gab ihm nur formal recht, inhaltlich aber nicht. Das Folgende sind meine Notizen der Urteilsverkündung, die nicht im Wortlaut identisch mit dem Urteil sind. Der genaue Wortlaut der Urteilsbegründung wird später schriftlich bekannt gegeben.
„- Das Arbeitsverhältnis wurde nicht durch eine außerordentliche, sondern durch eine ordentliche Kündigung, ausgesprochen am 7.2.2024 und mit Wirkung zum 31.3.2024, beendet.
- Der Kläger und die Beklagte teilen sich die Kosten 50:50.
- Der Kläger (also Ghassan Hage) hat durch seine am 7.10. und 16.11.2023 veröffentlichten Posts erheblich gegen seine Pflichten verstoßen, so erheblich, dass eine Abmahnung nichts gebracht hätte: dies aufgrund mangelnden Mitgefühls in seinem Post am 7.10. und weil er in seinem Post vom 16.11. Israel als ‚Projekt‘ bezeichnet und somit die völkerrechtlich verfasste Existenz Israels bestreitet. Die Kammer ist nicht überzeugt, dass der Beklagten (also die Max-Planck-Gesellschaft) diese Entscheidung aus heiterem Himmel traf. Deshalb war aus formalen Erwägungen die fristlose Kündigung unwirksam. Wir (also das Gericht) haben bewusst nicht über Antisemitismus gesprochen. Die verfasste Staatlichkeit Israels ist hinreichend und das sollte dem Kläger bekannt sein.”
Die Pressestelle des Arbeitsgerichts veröffentlichte dazu die folgende Mitteilung am Tag nach dem Urteil:
„Der Direktor des Arbeitsgerichts Halle kam mit seiner Kammer zu dem Ergebnis, dass die außerordentliche Kündigung aus formalen Gründen wegen Nichteinhaltung der Ausschlussfrist des § 626 BGB unwirksam ist, jedoch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des 31. März 2024 beendet hat.
In der sich an die Kammerverhandlung anschließenden Urteilsverkündung hat der Direktor des Arbeitsgerichts Halle betont, dass der Kläger insbesondere mit seinen Posts vom 7. Oktober 2023 und vom 16. November 2023 und damit, dass er die verfasste Staatlichkeit Israels in Zweifel ziehe, seine gegenüber dem Max-Planck-Institut bestehenden arbeitsvertraglichen Pflichten so massiv verletzt, dass die ordentliche Kündigung keiner vorherigen Abmahnung bedürfe.”
Vorher war eine beinahe erfolgte gütliche Einigung gescheitert. Die Parteien hatten sich nach langen Verhandlungen auf einen Text geeinigt, in dem Hage erklärt, dass seine öffentlich geäußerten Ansichten mit den Interessen der Max-Planck-Gesellschaft inkompatibel sind, und die MPG klarstellt, dass der letzte Absatz ihrer Presseerklärung vom 7. Februar sich nicht auf Ghassan Hage bezieht, sondern eine generelle Aussage darstellt. Zudem sollte Hages Antrittsvorlesung wieder online gestellt werden. Der Anwalt der MPG legte diesen Entwurf dem Vorstand der MPG vor, der diese Klarstellung ablehnte. Der Richter hat dennoch mehrmals und erneut auf eine Einigung gedrängt, in der beide Parteien erklären, dass sie keine Meinungsverschiedenheiten haben, aber dies hat Hage nicht akzeptiert, weil der durch die Kündigung und die damit verbundenen Vorwürfe entstandene Reputationsschaden damit nicht beigelegt sei.
Im Anschluss an die Verhandlung fragte ich Hage um eine Stellungnahme. Er nahm folgendermaßen Stellung:
„I am disappointed, but a part of me is not disappointed.”
Ich fragte ihm, welcher Teil von ihm nicht enttäuscht ist. Er antwortete:
„There was a strange comfort in hitting a brick wall at the court. It’s a bit like you realise that what you are facing is a natural disaster, not a social disaster. It has at least some element of a natural disaster. Like, the unthinkingness of what I heard was, wow!”
Ich einem Facebookpost an demselben Abend kündigte ich einen Bericht mit mehr Details. Hier ist er. Eine längere Reportage mit Blick auf die Hintergründe und Folgen der Affäre wird hoffentlich im kommenden Jahr im zenith Magazin erscheinen.
Was bisher geschah
Die Welt am Sonntag hatte Ghassan Hage in einem Bericht vom 4. Februar 2024 mit geschickt zusammengestellten Passagen aus verschiedenen Beiträgen in sozialen Medien porträtiert. Die WaS warf ihm „menschenverachtenden Zynismus“ vor und sprach von einem „Antisemitismus-Skandal“. Der Text zielte darauf, eine ablehnende Gefühlsreaktion der Lesenden auf Hage hervorzurufen, und ließ verstehen, dass er ein unbelehrbarer Antisemit sei. Doch stand nirgends im Text explizit, Hage sei Antisemit oder seine Äußerungen antisemitisch. Diese Auslassung ist wichtig, wie wir bald sehen.
Der Vorwurf wurde von vielen deutschen Medien übernommen, während Hage international eher Unterstützung bekam, darunter auch von Kollegen in Israel. Nach einer Prüfung der Beiträge kam ich zu dem Schluss, dass der Vorwurf des Antisemitismus gegen Hage nachweislich falsch ist. Wohl ist Hage ein entschiedener Gegner Israels und wütend über dessen extreme Methoden der Kriegsführung im laufenden Krieg in Gaza. Er hat auch um die israelischen Opfer des 7. Oktober 2023 getrauert, aber seine Sympathien sind entschieden auf der palästinensischen Seite. Er findet Widerstand gegen Israel grundsätzlich legitim, hat aber extreme Gewalt gegen Zivilisten nicht befürwortet. Wohl befürwortet er eine Einstaatenlösung, in der Juden, Muslime, Christen, Drusen und andere in einem demokratischen Staat mit gleichen Rechten leben. Man kann ihm Idealismus vorwerfen, Antisemitismus aber nicht. Ganz sicher aber sind seine Standpunkte in der Frage über Opposition oder Unterstützung gegenüber Israel mit denen der Max-Planck-Gesellschaft unvereinbar. Die MPG hat entschieden Solidarität für Israel und Trauer für die getöteten Israelis gezeigt. Sie hat keine Solidarität für Palästina und Palästinenser gezeigt. In einer Stellungnahme am 11. Oktober 2023 hat die MPG zwar von „unsäglichem Leid unter der palästinensischen Zivilbevölkerung“ gesprochen, aber dieses Leid ausschließlich der mörderischen Initiative der Hamas zugeschrieben; als ob die Regierung Israels keine Wahl gehabt hätte über den Einsatz der extrem mörderischen Mittel, die sie in ihrem Vergeltungskrieg seitdem einsetzt. Zuletzt hat die MPG Anfang Dezember 2024 ihre institutionelle Präsenz in Israel ausgebaut und ein Büro in West-Jerusalem eröffnet. Dass Hage und die Max-Planck-Gesellschaft sich darüber einig werden, ist nicht zu erwarten.
Beurlaubt von seiner Professur in Sydney war Hage an das Max-Planck-Institut für Ethnologie in Halle als Gastprofessor auf einer vollen Stelle in 2023 gekommen. Die Stelle wurde anschließend als eine halbe Stelle bis 31.12.2024 verlängert mit der Einstufung 15/6 nach Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes, und mit einem Bruttomonatsgehalt von 3572 Euro – ein Schnäppchenpreis für einen weltberühmten Forscher. Am 7.2.2024 erhielt er eine fristlose, hilfsweise ordentliche Kündigung. („Hilfsweise ordentlich“ bedeutet, dass falls die fristlose Kündigung widerrufen wird, stattdessen eine ordentliche Kündigung zum nächsten gesetzlich erlaubten Termin erfolgt, in diesem Fall zum 31.3.2024.) Dagegen ging er vor Gericht.
Vorwurf durch Andeutung
Die Max-Planck-Gesellschaft veröffentlichte zur Kündigung Hages am 7.2.2024 die folgende Stellungnahme:
„Der in der Fachcommunity bekannte und angesehene libanesisch-australische Wissenschaftler Ghassan Hage war seit April 2023 am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung tätig. Unter den von ihm in jüngerer Zeit über soziale Medien verbreiteten Ansichten sind viele mit den Grundwerten der Max-Planck-Gesellschaft unvereinbar. Die Max-Planck-Gesellschaft hat sich daher im Einvernehmen mit dem Institut von ihm getrennt.
Die vom Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland seit 75 Jahren garantierten Freiheitsrechte sind für die Max-Planck-Gesellschaft ein unschätzbar hohes Gut. Sie gehen mit großer Verantwortung einher. Forschende missbrauchen Freiheitsrechte, wenn sie mit öffentlich verbreiteten Verlautbarungen die Glaubwürdigkeit von Wissenschaft untergraben und damit das Ansehen und Vertrauen in die sie tragenden Institutionen beschädigen. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit findet seine Grenze in den wechselseitigen Pflichten zur Rücksichtnahme sowie Loyalität im Arbeitsverhältnis.
Rassismus, Islamophobie, Antisemitismus, Diskriminierung, Hass und Hetze haben in der Max-Planck-Gesellschaft keinen Platz.”
https://www.mpg.de/21510533/stellungnahme-ghassan-hage
Der erste Absatz ist fett gedruckt, danach folgt ein grüner Balken, und die zwei weiteren Absätze sind in kleinerer Schriftgröße formatiert. Dadurch entsteht eine visuelle und semantische Mehrdeutigkeit. Ist der letzte Absatz ein Vorwurf, Hage habe sich des Rassismus, Antisemitismus, der Islamophobie, Diskriminierung, des Hasses und der Hetze schuldig gemacht? Welche seiner Ansichten sind mit welchen Grundwerten der Max-Planck-Gesellschaft unvereinbar? Dank der mehrdeutigen Formulierung sowie der Trennung der Absätze konnte der Anwalt der MPG während der Verhandlung verneinen, seine Mandantin hätte Hage durch einen falschen Antisemitismus-Vorwurf geschadet. Die breite Öffentlichkeit hat das aber klar und deutlich als Antisemitismus-Vorwurf verstanden. Darauf hat Hage auch während der Verhandlung verwiesen. Er argumentierte, dass es ihm vor allem darum gehe, den ihm zugefügten Reputationsschaden zu beseitigen:
„Wie ich bereits erwähnte, habe ich einen Vortrag an der Universität Mainz gehalten. Die Leute, die mich eingeladen haben wurden belästigt und befragt: ‚Wie könnt ihr einen Antisemiten einladen?‘ [...] Der Vorwurf, ich sei ein Antisemit, betrifft mich täglich. Mein Ruf unter Kollegen ist gut, aber was in der breiten Öffentlichkeit geschieht, ist von den Medien beeinflusst und eine andere Sache.“
Genauso ist es auch gegangen. Die MPG hatte Hage in ihrer Pressemitteilung vom 7.2. nicht direkt Antisemitismus vorgeworfen. Aber doch verweigerte der Vorstand der Gesellschaft eine vom eigenen Anwalt verhandelte gütliche Einigung, in der die MPG klarstellen würde, dass sie ihm keinen Antisemitismus vorwirft. Ein expliziter Vorwurf kann als falsch bewiesen werden. Durch den enormen Reputationsschaden hätte eine Unterlassungs- oder Verleumdungsklage Aussicht auf Erfolg. Wohl deswegen haben sich sowohl die Welt am Sonntag also auch die Max-Planck-Gesellschaft davor gehütet, den Vorwurf explizit zu machen. Aber durch die Verweigerung der Klarstellung durch die MPG blieb der Vorwurf bestehen – allerdings unangreifbar, weil implizit. Das Hallenser Nachrichtenportal Du bist Halle hat die implizite Andeutung aber klar und deutlich interpretiert. Es berichtete am Tag nach der Urteilsverkündung: „Arbeitsgericht Halle: Rauswurf eines Wissenschaftlers beim Max-Planck-Institut wegen Antisemitischer Äußerungen und HAMAS-Sympathien bestätigt.”
In einer Stellungnahme am Tag des Urteils hielt sich die MPG zurück, das eine oder andere zu behaupten, sondern stellte nur fest:
„Im Februar 2024 hatte sich das Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle im Einvernehmen mit der Leitung der Max-Planck-Gesellschaft von dem libanesisch-australischen Gastwissenschaftler Ghassan Hage getrennt. Hintergrund waren von Hage in den Sozialen Medien verbreitete Ansichten zur Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober 2023, die mit den Grundwerten der Max-Planck-Gesellschaft unvereinbar waren. Ghassan Hage hatte gegen seine Kündigung vor dem Arbeitsgericht in Halle geklagt. In seiner heutigen Sitzung hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen und damit die Position der Max-Planck-Gesellschaft bestätigt.“
https://www.mpg.de/21510533/stellungnahme-ghassan-hage
Die Leiterin der Abteilung Kommunikation der MPG verweigerte weitere Erläuterungen, als ich am 12.12. in einer Email um ein Interview anfragte: „Wir sehen mit dem Urteil unsere Position, die wir am 7. Februar veröffentlicht haben, bestätigt. Mehr gibt es aus unserer Sicht dazu auch nicht mehr zu sagen.“ Ich hatte die folgende Frage stellen wollen:
“In der Pressemitteilung und am Dienstag vor dem Gericht hat die MPG es sorgfältig vermieden, Hage explizit Antisemitismus vorzuwerfen. Das spiegelte auch das Urteil wieder. Dennoch hat die MPG eine Einigung abgelehnt, in der sie feststellen würde, dass sie ihm nicht Antisemitismus vorwirft. Warum?”
In Ermangelung einer Antwort von der MPG versuche ich eine Erklärung.
Tendenzträger, Projekt, moralisches Empfinden
Es ist nichts Neues, dass Wissenschaftler Ansichten vertreten, die ihre Institutionen nicht mittragen wollen. Dasselbe Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle, von dem Hage entlassen wurde, hat in seinen Reihen auch Chris Hann, einen prominenten Versteher der Politik von Vladimir Putin und Kritiker der Westorientierung der Ukraine. Manche seiner Argumente in seinen Publikationen (https://www.berghahnjournals.com/view/journals/focaal/2024/98/fcl980110.xml
https://ukraine2022.ios-regensburg.de/poland01/) lesen sich als eine verschleierte Aberkennung der Legitimität der Ukraine als Nationalstaat - dabei sagt Hann es nicht selbst, sondern lässt geschickt andere zu Wort kommen, die es sagen. Seine Ansichten sind in der Fachwelt bekannt und umstritten. Trotzdem führt die Homepage des MPI in Halle ihn als aktiven Emeritusdirektor – und das ist auch richtig so. Die Wissenschaft lebt von Dissens und Kritik, darunter auch fragwürdige und problematische Ansichten. Ohne die Auseinandersetzung mit ihnen sind unsere Analysen und Entscheidungen blind, eine bloße Widerspiegelung unserer eigenen Tendenzen.
Und genau darum ging es im Grunde vor dem Arbeitsgericht Halle: welche Art von Dissens und Differenz ist Wissenschaftlern erlaubt, und inwiefern sind sie als „Tendenzträger“ verpflichtet, die offizielle Linie ihrer Institution mitzutragen? Zum Beispiel sind Priester einer Kirche Tendenzträger eines Glaubens und sollten sich nicht öffentlich anti-religiös äußern. Das Wort Tendenzträger wurde vom vorsitzenden Richter in der mündlichen Urteilsverkündung zwar nicht erwähnt. Aber während der Verhandlung verwies er darauf, dass das Landesarbeitsgericht Berlin im April 2024 (Aktenzeichen 5 Sa 894/23) die fristlose Kündigung eines Mitarbeiters der Deutschen Welle wegen dessen antisemitischen und antiisraelischen Äußerungen auf sozialen Medien bestätigt und eine Revision nicht zugelassen hatte. Jener Mitarbeiter hatte unter anderem geschrieben, eine vermeintliche jüdische Lobby hätte die deutsche Politik unter ihrer Kontrolle. Er hat sich also wirklich antisemitisch geäußert. Dies hat Hage nicht getan. Entscheidend war hier aber nicht der Tatbestand, sondern die Begründung des Berliner Landesarbeitsgerichts, wonach
„der Redakteur als sogenannter Tendenzträger verpflichtet war, sowohl bei seiner Arbeitsleistung als auch im außerbetrieblichen Bereich nicht gegen die Tendenz, das heißt die grundsätzlichen Zielsetzungen, der Deutschen Welle zu verstoßen.“
Aus dem umfangreichen Beweismaterial konzentrierte sich der vorsitzende Richter in seinem Urteil auf zwei Posts, die die MPG dem Betriebsrat vorgelegt hatte (Rücksprache mit dem Betriebsrat ist eine rechtliche Bedingung für eine fristlose Kündigung). Der erste Post ist ein Gedicht, veröffentlicht am Nachmittag des 7.10.2023 – also zu einem Zeitpunkt, als noch nicht bekannt war, wie brutal der Angriff und wie hoch die Anzahl Getöteten war. Zu jenem Zeitpunkt waren viele Beobachter noch unter dem Eindruck, es handele sich um eine eher militärische als terroristische Aktion. In dem Gedicht zeigt sich Hage beeindruckt über die Fähigkeit der Palästinenser, Widerstand zu leisten. Der Text ist eine Romantisierung eines bewaffneten Kampfes gegenüber Israels Kriegsführung, aber eine Verherrlichung oder Rechtfertigung der extremen Gewalt durch die Hamas und ihre Verbündeten ist dort nicht zu finden. Zum Zweiten nahm der vorsitzende Richter Bezug auf ein Essay vom 16.11.2023, wo der Ausdruck, „zionistisches ethno-nationalistisches Projekt“ vorkommt. Der Richter wies darauf hin, dass Hage in seinen Äußerungen das ganze Gebiet Palästinas als besetzt bezeichnet hat. Zentral in seiner Begründung war aber das Wort „Projekt“. Israel als Projekt zu beschreiben sei eine Verneinung der völkerrechtlich verfassten Existenz Israels, weil ein Projekt etwas Unbeständiges und Vorübergehendes bedeute.
Das Wort „Projekt“ kommt in jenem Essay nur in einem Satz vor, und zwar in diesem:
„Es gibt natürlich jene unter uns, die trotz unserer Gegnerschaft zum zionistischen ethno-nationalistischen Projekt und aus dem Komfort unserer gesellschaftlichen und geografischen Lagen, und wegen unserer vielfältigen Bindingen, in der Lage waren, für die Opfer der Morde der Hamas zu trauern.“
Hage leugnet in dieser Passage also keineswegs die staatliche Existenz Israels, identifiziert sich aber wohl als Gegner des politischen Projekts des Zionismus. Zudem drück er explizit Trauer für die israelischen Opfer des 7. Oktober aus. Der vorsitzende Richter hatte Hage mangelndes Mitgefühl attestiert. Hier aber steht Mitgefühl schwarz auf weiß. Dies wurde im Urteil nicht in Erwägung gezogen.
Der vorsitzende Richter verzichtete in seinem Urteil ausdrücklich darauf, die Frage zu erörtern, ob diese Aussagen antisemitisch seien oder nicht. Während der Verhandlung wurde aber viel über Antisemitismus gesprochen. Der Anwalt der MPG hatte mit Verweis auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts darauf bestanden, dass Äußerungen in den sozialen Medien durch ihre Wirkung auf das Publikum auch dann antisemitisch sein könnten, wenn Hage, der mit einer Jüdin verheiratet ist, selbst kein Antisemit ist. Hages Anwalt hatte wiederum darauf bestanden, zu prüfen, ob überhaupt antisemitische Inhalte vorlagen, und das unter Berücksichtigung der Begleitumstände, wie die Antisemitismusdefinition der IHRA als auch die der Jerusalemer Erklärung vorsehen.
Hätte die MPG Hage explizit wegen Antisemitismus entlassen, hätte sein Anwalt nachweisen können, dass der Vorwurf nicht wahr ist. Aber indem sie den Vorwurf weder ausdrücklich erhob noch zurückzog, gab die MPG dem Gericht die Möglichkeit, andere Gründe für das Urteil zu finden.
Mein Eindruck war, dass der vorsitzende Richter sich bei seinem Urteil auf sein eigenes moralisches und politisches Empfinden stützte. Während der Verhandlung sagte er, er wolle keine Dresden- und Nazivergleiche hören (damit verwies er auf eine Erwähnung Dresdens in den von der WaS gesammelten Zitaten von Hage), und dass wenn man über einen anerkannten Staat sage, dass er eine Besatzung und ein Projekt sei, die Beklagte (also die MPG) das nicht hinnehmen könne. Der Tonfall und die Wortwahl machten deutlich, dass es dem Richter nicht darum ging, dass die Ansichten von Hage und MPG inkompatibel waren – das stand nicht zur Debatte. Vielmehr schien er davon überzeugt, dass Hage moralisch und politisch im Unrecht sei.
Was das Urteil für die Wissenschaft in Deutschland bedeutet
Dass das Wort „Projekt“ zum entscheidenden Grund des Urteils erhoben wurde, ist bemerkenswert. Schließlich ist das Wort Projekt nicht allgemein negativ besetzt, und auch entschiedene Anhänger Israels haben Israel als ein Projekt beschrieben. Ein politisches Projekt ist nicht dadurch charakterisiert, dass es vorübergehend ist, sondern dass es unabgeschlossen, in Bewegung ist. Das Wort Projekt trifft gut auf Israels Staatlichkeit zu, denn der Staat Israel wurde zuerst als eine Idee ausgesprochen und erst später als Gebiet erobert; und sein Gebiet ist durch unabgeschlossene Grenzen charakterisiert, die sich durch Kriege und Siedlungspolitik, Expansionen und Rückzuge immer wieder ändern. Am Ende ist aber die Wahl des Richters, dieses Wort anzusprechen, nicht entscheidend. Er hätte auch eine andere Begründung finden können, und die Stellungnahme der MPG am Tag des Urteils führt nur das Gedicht vom 7.10.2023 als Begründung für ihren Standpunkt an. Entscheidend für die Wirkung des Urteils auf die Wissenschaft in Deutschland sind drei Punkte.
- Die Mehrdeutigkeit des Vorwurfs ermöglichte der MPG, Hage Antisemitismus zu unterstellen, aber die Unterstellung nicht als Behauptung beweisen zu müssen.
- Der vorsitzende Richter stützte sich auf sein moralisches und politisches Empfinden und sah Hages Standpunkt als inhaltlich falsch an, auch wenn die Kündigung selbst formell inkorrekt war.
- Durch die Mehrdeutigkeit des Vorwurfs und die Rolle des moralischen Empfindens beim Urteil blieb die entscheidende Frage darüber ungeklärt, gegen welche Prinzipien und Vorgaben der MPG Hages Pflichtverletzung sich richtete. Entsprechend vage und ungeklärt bleibt, inwieweit wissenschaftliche Institutionen ihren Mitarbeitern politische Standpunkte verbieten und vorgeben dürfen.
Sollte diese Interpretation gängige Praxis werden, müssen in der Wissenschaft Tätige in Deutschland künftig erwarten, dass ihre Institutionen ihnen politische Standpunkte vorschreiben und verbieten. Doch ist dies der weniger schwerwiegende Teil des Urteils. Denn jene Erwartung der erzwungenen politischen Linientreue haben viele meiner Kolleginnen und Kollegen in Deutschland schon jetzt. Schwerer wiegt die Art und Weise, wie der Vorwurf des Antisemitismus im Laufe der Affäre immer wieder in den Vordergrund rückte, nicht offen ausgesprochen wurde – aber auch nicht zurückgenommen wurde.
Überhaupt wurde vieles nicht offen ausgesprochen, und das zeigte sich auch in einem Unwillen unter Mitarbeitenden des Max-Planck-Instituts in Halle, gegenüber der Öffentlichkeit zu sprechen. Meine ersten Versuche, dort Interviewpartner zu finden, waren erfolglos. Menschen fanden es problematisch, sich auch nur anonym zu äußern, denn ihre Wortwahl und Argumente würden sie trotzdem erkennbar machen. Aber wovor genau hatten sie Angst? Auch das war unklar. Ein Kollege aus dem Institut hat mir schließlich in einem informellen Gespräch seine Erfahrung mitgeteilt.
Er sagte, dem Bericht der WaS und der Entlassung Hages sei eine große Unsicherheit unter Mitarbeitenden des MPI in Halle gefolgt. Die in der WaS zitierten Fragmenten aus seinen Posts wurden unterschiedlich wahrgenommen. Internationale Mitarbeiter empfanden sie oft als weniger problematisch. Deutsche Kollegen äußerten unterschiedliche Ansichten. Sie konnten leichter verstehen als ihre internationalen Kollegen, warum die Aussagen in der deutschen Öffentlichkeit auf Ablehnung stießen. Dennoch sei so gut wie die ganze Belegschaft des Instituts gegen die Entlassung von Hage gewesen, und bestürzt über die plötzliche und intransparente Entscheidung. Seitdem herrsche unter den Kollegen Sorge und Unsicherheit. Werden jetzt soziale Medien der Mitarbeiter überprüft? Was ist erlaubt und was nicht? Die Leitung des Instituts habe versucht, die Mitarbeiter zu beruhigen. Dennoch sei es ihnen nicht gelungen, das Gefühl der Unsicherheit zu beseitigen. In einem Townhall-Treffen mit den Mitarbeitern, wo die vorher veröffentlichte Stellungnahme vom 7.2.2024 diskutiert wurde, habe der Präsident der MPG Patrick Cramer es vermieden, Hage Antisemitismus vorzuwerfen. Auf die Stellungnahme Bezug nehmend habe er gesagt, beim letzten Paragraph handele es sich um einen allgemeinen Standpunkt der MPG. Eine Klarstellung sei gefordert worden, aber der Präsident habe dafür keinen Anlass gesehen.
Das Bild, das ich im Gespräch mit ihm bekam, deckt sich mit dem allgemeinen Eindruck aus informellen Gesprächen mit Kollegen: durch heftige, aber unklare und intransparente Entscheidungen entsteht ein bedrücktes, unangenehmes Schweigen. Eine außerordentliche Kündigung ist umstritten und riskant, schafft oft mehr Konflikte als Lösungen. Viel einfacher ist es, Verträge nicht zu verlängern und Unterstützung für Förderanträge zu entziehen. Eine solche Zensur durch Andeutung ist viel mächtiger als offizielle rote Linien, an denen man sich entweder arrangieren, oder gegen die man vorgehen kann, wenn man bereit ist, die Konsequenzen in Kauf zu nehmen.
Nachwort, mit Stellungnahme vom Autor
Auch ich habe mich eine Zeit lang als Teil eines bedrückten Schweigens empfunden. Als der Krieg begann, hielt ich mich lange bedeckt, weil ich sowohl die massenmörderische Kriegstreiberei in Deutschland auf Seiten Israels ablehnte, als auch die Rechtfertigung eines Massakers im Namen von Widerstand und Dekolonisierung. Hier und da empfand ich die Unmöglichkeit eines Gesprächs, das über einen genervten Austausch von unvereinbaren Behauptungen hinausgehen würde. Etwas Ähnliches muss Hage empfunden haben, als er nachdem Urteil vom „seltsamen Komfort“ sprach, „auf eine Backsteinmauer vor Gericht zu stoßen.“ Er beschrieb es als „unthinkingness“ der Gegenseite, was sich vielleicht mit „Entschiedenheit, nicht zu denken“ übersetzen lässt. Dabei hatte sich der vorsitzende Richter eindeutig Gedanken gemacht. Aber seine Gedanken und die Gedanken von Hage konnten sich nicht begegnen. Eine feste Mauer von Unverständnis trennte sie voneinander, beide an und in sich stimmig und vollständig.
Die Wissenschaft bietet der Menschheit eine kritische Vielstimmigkeit, die besseres Denken und bessere Handlungen ermöglicht. Diese kritische Vielstimmigkeit ist während dieses Krieges zu einem gefährlichen Ausmaß durch eine Backsteinmauer des laut vorgetragenen Unverständnisses und durch eine bedrückte Stille der Zensur durch Andeutung ersetzt. Ich habe meine Deckung verlassen und begleite den Fall Ghassan Hage gegen die Max-Planck-Gesellschaft aus zwei Gründen: erstens weil diese bedrückte Stille mich und meine Kolleginnen und Kollegen mehr bedroht als das offene Unverständnis; und zweitens, weil Hage und ich die Überzeugung teilen, dass es in diesem seit Jahrzehnten dauernden Krieg andere Möglichkeiten geben sollte, als die Unterwerfung oder Vernichtung einer Seite durch die andere. (Zurzeit hat Israel die Mittel und zunehmend auch den Willen, die
palästinensische Seite nicht nur zu unterwerfen sondern auch in Teilen
oder ganz zu vernichten. Auf der palästinensischen Seite mangelt es ebenfalls nicht am Willen zur Vernichtung der Gegenseite, aber wohl an Mitteln. In einer anderen weltpolitischen Konstellation
in der Zukunft können die Mittel anders verteilt sein. Mit
dem Atomwaffenarsenal, das Israel als eine Waffe der letzten Instanz
besitzt, kann die Zerstörung dann weit über die Region Palästina-Israel
hinausgehen.) Ich habe weniger Glauben als Ghassan Hage an idealistische Ziele und Revolutionen. Wo er eine demokratische Einstaatenlösung für realistisch hält, denke ich, dass ein möglicher Verhandlungsfrieden nur schlecht und ungerecht sein kann, aber immerhin besser wäre als mehr Krieg. Solche unterschiedlichen Ansichten sind wichtig. Sie verdienen Förderung und nicht Entlassung.
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